Bisher hatten wir uns in unserer Serie über Gestaltungs-Stile mit dem rational-sachlichen Konstruktivismus und dem einfühlsamen Impressionismus beschäftigt. In dieser letzten Folge geht es um den Expressionismus, der mit emotionaler Dramatisierung und Dynamisierung arbeitet. Wo kann Medien-Design die expressionistische Vereinfachung nutzen und einsetzen?
Beim Einsatz einer Design-Stilistik geht es darum, die Möglichkeiten einer Design-Sprache auszuloten. Auf der einen Seite steht der Kunde und möchte beispielsweise ein neues Corporate Design, auf der anderen Seite arbeitet der Gestalter, der ein Erscheinungsbild kreiert, mit dem er die Kunden-Zielgruppen anspricht und aktiviert. Die grundlegenden Stilistiken, derer er sich bedienen kann, wären
- der nuanciert-gefühlvolle Impressionismus,
- der sachlich-kühle Konstruktivismus,
- der dynamisch-dramatisierte Expressionismus oder
- Mischformen daraus.
Expressionistisches Gestalten
Was ist Expressionismus im Medien-Design? Das kann ein dynamisches Grundlayout sein, in dem nicht alles starr und geordnet seinen Platz hat, sondern Bewegung Emotionalität erzeugt. Wer auf eine Party will und einen Einladungs-Flyer dazu in der Hand hält, für den muss die Party-Stimmung vom Gestalter in visuelle Reize übersetzt werden. Etwa durch ein großes Foto Tanzender mit Bewegungs-Unschärfen. Vielleicht ist auch das Foto insgesamt unscharf und verschmilzt mit Lichtern und Farben, verdichtet sich gefiltert zu einem Wirbel, an den auch die Typografie geschwungen angepasst wird. So steht die Überschrift nicht mehr gerade oben über dem Motiv, sondern wird geschwungen oder auf einen Kreis gelegt in das bewegte Element des verfremdeten Fotos integriert.
Eigenschaften des Expressionismus als Gestaltungs-Stilistik
- Formal ist expressionistisches Design ungeschliffen, dynamisiert und visualisiert oft in irgendeiner Form Bewegung.
- Inhaltlich ist expressionistisches Gestalten deutlich, zuweilen auch überdeutlich, konfrontativ oder sogar provokativ, wobei bereits in der Überdeutlichkeit oder Überbetonung visueller Botschaften eine Konfrontation liegen kann.
- Form ist aber nicht nur Oberfläche, sie transportiert etwas oder führt zu etwas, das schneller als der Text erfasst wird. Das gilt auch für die Anmutung der Gestaltung, deren Gesamtform schneller wahrgenommen wird als ihre Details.
Expressionismus und Konstruktivismus
Der Konstruktivismus führt im Gegensatz dazu zu mehr Regelmäßigkeit aber auch zu visueller Vorhersehbarkeit und gibt so ein Gefühl der Sicherheit. Erwartungshaltungen werden im Konstruktivismus mehr bedient während das expressionistische Gestalten den Betrachter überraschen und aus der Reserve locken kann. Während der
- Impressionismus für Ruhe sorgt und der
- Konstruktivismus für Ordnung, schafft der
- Expressionismus Spannung.
Jüngere und ältere Zielgruppen
Je nach Zielgruppe und Rezeptionsmustern wird aber manches unterschiedlich gewichtet, wahrgenommen und bewertet. Letztlich entschlüsseln kann den kommunikativen Code nur, wer zur Zielgruppe gehört oder sich in deren Gewohnheiten und Vorlieben einarbeitet. Deshalb kann man Gestaltungs-Stilistiken z.B. auch nach Altersgruppen auswählen und dafür von folgender Arbeitsthese ausgehen, die aber zielgruppenspezifisch differenziert werden muss:
- Ältere, konservative Milieus mögen Ruhe, Ordnung, Übersichtlichkeit, Lesbarkeit und die Erfüllung ihrer Erwartungen wie sie eher im konstruktivistischen oder impressionistischen Gestalten zu finden sind.
- Jüngere Zielgruppen und progressive Milieus favorisieren die expressionistische Dynamik. Sie lassen sich durch relative Unübersichtlichkeit eher herausfordern, Lesbarkeit ist hier nicht das Wichtigste sondern visuelle Affinität.
Die visuell-expressionistische Sprache
Ein expressionistisches Design wirkt wenig sachlich oder seriös. Es nimmt den Betrachter für sich ein, etwa auf dem Titelblatt eines Jugendmagazins, in der Flyer-Werbung für Events oder allgemein beim Thema „Jugendkultur“. Aber auch Buchverlage oder Großunternehmen setzen immer wieder expressionistische Versatzstücke etwa in Form nicht alltäglicher Gestaltungen oder von Elementen wie Fotos, Illustrationen oder der Überschriften-Typografie ein. Immer wenn es um etwas Neues, Ungewohntes oder Innovatives geht, liegt eine expressionistische Grundgestaltung nicht fern, weil sie höhere Aufmerksamkeitswerte schafft. Nachfolgend drei Beispiele für die expressionistische Anmutung von Headlines:
Diese Beispiele zeigen, wie Schrifttypen unterschiedlich stark ihre Zielgruppe ansprechen. Ähnlich wie eine Filmmusik in einem Film eine Grundstimmung erzeugt, kann eine expressionistische Typografie im Zusammenspiel mit adäquatem Bildmaterial eine Atmosphäre schaffen, in der sich die Adressaten angesprochen und wohl fühlen. Doch die Gestaltungsstile lassen sich schon in der Typografie mischen:
Expressionismus und Impressionismus im Medien-Design
Dabei sind sowohl Expressionismus als auch Impressionismus gefühlsaktivierender als der rational geplante Konstruktivismus.
- Der Impressionismus arbeitet zurückhaltender, differenzierter und feingliedriger. Farben sind hier nuancenreich abgestufter und nicht schrill oder kontrastreich nebeneinandergestellt.
- Der Expressionismus ist weniger statisch, bewegter, unruhiger und deutlicher – er arbeitet meist mit einfacheren Reizen. Hier kommt eine gröbere Flächigkeit zum Einsatz.
Wirkung der Grundgestaltung der Designstile
Expressionistische Gestaltung: Ein Beispiel für eine gemäßigt expressionistische Gestaltung mit großer Illustration und einer gebogenen Überschrift mit handschriftlicher Anmutung könnte so aussehen:
Impressionistische Gestaltung: Ein ähnliches Layout impressionistisch interpretiert, könnte eine filigrane Überschriften-Type benutzen und illustrativ anstatt eines deutlichen Ausdrucks wie im Expressionismus den gefühlten Eindruck detaillierter herausarbeiten:
Konstruktivistische Gestaltung: Weniger gefühlvoll als in diesen beiden Beispielen – das heißt: sachlicher, rationaler und konstruierter – könnte eine konstruktivistische Interpretation dieses Layouts so aussehen:
Historische Wurzeln der Design-Stile
Die Unterschiede der Design-Stile leiten sich aus der Geschichte der Bildenden Kunst ab – und doch sind die Verschiedenheiten der Stile Expressionismus, Impressionismus und Konstruktivismus historisch komplexer. Beispielsweise waren in der bildenden Kunst vor dem Auftreten des eigentlichen Kunststils „Impressionismus“ bereits die sogenannten „Vor-Impressionisten“ aktiv, und auf die Sanftheit des Impressionismus reagierten die „Fauvisten“, aus denen dann der Expressionismus entstand.
Die Kopplung der Stilelemente „Rauheit“ und „Vereinfachung“ waren also schon vorhanden und sind in unterschiedliche Ausdrucksstile und Darstellungsstile bis heute eingeflossen. Waren die Impressionisten oft mit der Schönheit und Leuchtkraft von Oberflächen beschäftigt, wollten die Expressionisten das Ungeschönte, Wilde und Raue zeigen. Aber im Design ist es einfacher, verschiedenste Stile zu mischen, als dies in der Kunst der Fall wäre. Der Mix verschiedener Stilelemente ergibt visuelle Spannkraft. So kann eine Grundgestaltung
- übersichtlich-konstruktivistisch sein,
- zugleich impressionistische Illustrationen im Innenteil einer Broschüre einsetzen aber
- eine expressionistisch ausgerichtete Titelillustration bringen, die plakativer wirkt und einen deutlicheren Anreiz bietet.
Man kann in der Street-Art oder der Graffiti-Kunst eine neue Art von Expressionismus entdecken. Die ursprünglich handgesprayten wilden Schriften gibt es längst als Fonts für den Computer obwohl auch hier Stilmixe existieren.
Design-Stil „Expressionismus“ für die Zielgruppen-Ansprache
Zwischen der visuellen Anmutung einer Traditions-Bank, einer Kette für Künstler-Bedarf, einer städtisch organisierten Wirtschaftsförderung oder einem Web-Shop für individuell bedruckbare T-Shirts liegen Welten bezüglich Zielgruppen und Zielgruppenansprache. Dennoch kann hier eine jugendgerechte Ansprache über expressive Elemente Zielgruppen erschließen oder neu aktivieren.
Zu berücksichtigen ist auch, dass sich in einer Unternehmensgeschichte die Ausrichtung der Zielgruppenansprache immer wieder ändert. Auch ein Traditionshaus darf beispielsweise die Jugendkommunikation nicht vernachlässigen, die einem stärkeren Wandel unterzogen ist. Der Webshop, der eine ausschließlich junge Zielgruppe hat, muss kurzintervallig immer wieder neue Trends nutzen. Die „Sprache“ einer Zielgruppe zu sprechen, ist längst nicht mehr nur verbal gemeint, sondern zunehmend visuell. Wer die visuellen Zeichen, Symbole und Bildwelten einer Zielgruppe kennt und versteht, kommuniziert mit ihr direkter und damit schneller. Besonders schnell als visuelle Sprache wirkt der Expressionismus auch deshalb, weil er im Idealfall über Bildsprache und Design-Anmutung sofort Gefühle aktiviert.
Ein Beispiel für einen Gestaltungs-Mix
Eine 25-jährige Tochter, die bei einer Versicherung arbeitet, sucht einen Platz für ihren Vater in einer Senioren-Residenz. Wen muss die Werbung in erster Linie ansprechen und welche Rolle könnte dabei expressionistisches Gestalten spielen?
- Ein Weg wäre eine konstruktivistische Grundgestaltung, die Ordnung und Übersichtlichkeit schafft.
- Die Fotos könnten impressionistische Ruhe ausstrahlen und Stimmungsbilder sein und
- die Überschriften könnten moderat expressionistisch sein, um zu zeigen, dass diese Pflegeeinrichtung Lebendigkeit und Dynamik auch im Alter vorlebt.
So würden Ordnung, Zuverlässigkeit und Sicherheit auf der einen Seite eine Synthese mit kultureller Abwechslung eingehen. Dies wäre inhaltlich ein Zeichen dafür, dass sich im Leben der dort Wohnenden etwas bewegt und der zu Pflegende nicht auf ein Abstellgleis gerät.
Fazit: Expressionismus als Stilmittel der Dynamik und Jugend
Der Expressionismus als Gestaltungsstil dynamisiert visuelle Botschaften. Somit ist er zum Beispiel geeignet für die Jugend- und Kultur-Kommunikation wie für eine allgemein aufmerksamkeitsstarke Kundenansprache. Seine Mittel sind eine höhere Flexibilität der Gestaltung insgesamt, der Bildelemente und der Typografie.
Vorteile für die Design-Konzeption: Wer für sein Gestaltungs-Projekt eine bestimmte Design-Stilistik vor Augen hat, sollte sich in der Konzeptionsphase überlegen, inwiefern er sie mit den beiden anderen Stilen veredeln könnte. Also zum Beispiel: In eine expressionistische Grundgestaltung stellenweise Ruhe durch eine konstruktivistische Geschäftsgrafik oder ein impressionistisches Foto bringen. Oder ein geordnetes, konstruktivistisches Layout durch handschriftlich-expressionistische Headlines dynamisieren. Gerade in der Konzeptionsphase kann dies zu einem originellen Stilmix führen, der neue Wege beschreitet.
Vorteile für Akquisition und Präsentation: Das Nachdenken über die Grundstilistik kann aber auch in der Akquisition, also etwa im Erstgespräch mit einem Kunden, dessen Neugier wecken und die eigene Kompetenz profilieren. Ein Kunde der sich nicht sicher ist, wie sein neues Firmen-Logo aussehen könnte, könnte zwischen drei Entwürfen auswählen: einem expressionistischen, einem impressionistischen und einem konstruktivistischen. Dabei würde er in der Präsentation oder einer Vorpräsentation, in der etwa Konkurrenzlogos gezeigt werden könnten, eine Ahnung davon erhalten, wie unterschiedlich ein Unternehmen auch visuell positioniert werden kann.
Dies ist die letzte Folge in dieser Reihe. Alle erschienen Teile:
Welche Stile im Medien-Design gibt es?
Was zeichnet den Design-Stil „Impressionismus“ im Medien-Design aus?