Die Online-Welt hat den Alltag durchdrungen und bindet viel Aufmerksamkeit. Welchen Stellenwert haben Drucksachen in dieser virtuellen Welt? Wo spielen Printprodukte ihre Vorteile aus und wo harmonieren sie sogar mit dem World Wide Web?
Es ist manchmal, als wäre die reale Welt verschwunden, wenn man zu lange vor dem Bildschirm saß. Es fühlt sich auch so an, als existierten die virtuelle Welt des Internet und die reale Welt auf verschiedenen Zeitebenen. Im Internet geschieht alles schnell und dramatisch, das Medium scheint fast schneller als der Mensch selbst zu funktionieren. Die Welt der Drucksachen wirkt bedächtiger. Auch wenn die Produktionszyklen einer Drucksache viel kürzer als früher sind: was gedruckt wird, braucht einen Vorlauf.
Die Welt im Bildschirm
Ein wesentliches Kriterium für die Attraktivität der virtuellen Welt ist diese Echtzeitigkeit. Was passiert, geschieht sofort. Der Chat funktioniert augenblicklich wie ein persönliches Gespräch. Informationen über Ereignisse sind neuer als die in den Fernsehnachrichten und aktueller als in der Tageszeitung.
Firmen-Webseiten, Portale von Großunternehmen oder Webpräsenzen von Behörden sind aber in ihrer Geschwindigkeit nicht viel anders als Drucksachen. Große Webseiten sind oft unübersichtlicher, weil Webseiten keine zwingende Reihenfolge haben wie etwa eine Unternehmensbroschüre. Andererseits findet man im Web über die Suchfunktion, was man braucht. Dabei betrachtet man eine Webseite flüchtiger als die inhaltsgleiche Broschüre – den klick- oder wischbereiten Finger immer nah am Smartphone-Bildschirm.
Die tägliche Verweildauer am Bildschirm
Denn die Welt des Internet hat eine nervöse Seite: 40% der 18-24jährigen schauen laut einer Studie täglich 50 Mal und mehr auf ihr Handy. Gemäß anderen Quellen würde man durchschnittlich alle 11 Minuten aufs Handy schauen, also bis zu 88 Mal täglich. Der Nutzer soll 2020 im Durchschnitt 2:24 Stunden pro Tag auf Social Media verbracht haben. Über das Smartphone hinaus ist die Zeit an anderen Bildschirmen, die unterhaltende und informierende Inhalte bieten, dominierend: Smart-Watch, Tablet, Laptop, Desktop-Computer oder Smart-TV bilden einen durchgängigen virtuellen Informationsraum, der Aufmerksamkeit vereinnahmt.
Beanspruchung durch die virtuelle Welt
So schreibt der Franzose Gérald Bronner, Professor für Soziologie an der Université Paris-Diderot, in seinem mehrfach preisgekrönten Buch „Kognitive Apokalypse – eine Pathologie der digitalen Gesellschaft“ (2021 erschienen) über die Auswirkungen des Lebens in virtuellen Welten. Dort ist die Rede von 3,7 Stunden, die die Nutzer täglich vor Bildschirmen verbringen. Kapitel des Buches heißen „Im Stehen schlafen“ oder „Während du deinen Bildschirm beobachtest, beobachtet dein Bildschirm dich“. Es geht darin auch um Fanatismus, Hass im Netz, Fake News und Verschwörungstheorien, die in der Netzwelt besonders gut gedeihen.
Kritisch sieht auch Manfred Spitzer, Professor für Psychiatrie an der Universität Ulm, die Dominanz des Internet. In einem seiner Bücher (2012 erschienen) hat er in Deutschland den Begriff „Digitale Demenz“ geprägt, in dem er einen Zusammenhang zwischen mentaler Beeinträchtigung und früher bzw. exzessiver Mediennutzung sieht.
In verschiedenen gesellschaftlichen Zusammenhängen ist zudem immer öfter von „Überforderung“ oder von „Burnout“ die Rede – es scheint eine Zeiterscheinung zu sein, dass auch der Medienkonsum über das allgegenwärtige Internet nicht nur Vorteile hat, sondern seine Nutzer und ihre Aufmerksamkeit in all der Echtzeit-Kommunikation auch erschöpfen kann. Der Grund: Der Medienkonsument kann innerlich kaum noch richtig abschalten und wirklich entspannt zur Ruhe kommen.
Flüchtigkeit der virtuellen Welt
Als Reaktion darauf ist von „Entschleunigung“, „digitaler Abstinenz“ oder sogar von „Digital Detox“ die Rede – was einer Entgiftung gleichkäme. Dies meint im Kern, die Rückkehr in ein Leben mit analogem Schwerpunkt: Anstatt gelikten Katzenbildern zum Beispiel das Streicheln einer echten Katze. Anstatt eines Permanenz-Streams an Postings, Nachrichten, Filmen und Medien aller Art, echte Ruhe in einem echt gelebten Leben. Eine selbstverständliche Besonderheit ist: Wenn man die Gadgets tatsächlich ganz ausschaltet, ist diese virtuelle Zweitwelt verschwunden.
Beständigkeit der Drucksachen
Was dann vorhanden ist, ist eine langsamere und weniger stressige analoge Welt – auch versehen mit ihren physisch vorhandenen Printprodukten und Drucksachen wie Büchern, Zeitschriften, Zeitungen, Prospekten, Flyern mit Hinweisen auf Veranstaltungen oder der Broschüre bezüglich der neuen Inneneinrichtung. Gedrucktes bleibt vorhanden, es lässt sich nicht auf Knopfdruck ausschalten. Das wirkt nicht nur weniger hektisch, es hat auch Charme und eine gewisse Verlässlichkeit. Man kann sich nämlich an etwas, das immer vorhanden ist, besser orientieren. Es setzt einen Punkt im Leben wie das Kinderbüchlein, das man noch als Erwachsener aus einer alten Kiste zieht und sich wieder daran freut.
Wo die virtuelle Welt den Tastsinn nicht anspricht, hat das Papier einer Drucksache – auch dessen Prägung oder Stanzung – eine Haptik, die man in den Fingern spürt. Was wie eine Selbstverständlichkeit klingt, ist angesichts der virtuellen Welt eine Qualität: Jede Drucksache, wie klein sie auch sein mag, ist echt und keine Simulation.
Aktualität und informationelle Schnelligkeit
Drucksachen sind aktuell aber weniger aktuell als Online-Nachrichten, weil sie einen längeren Produktionsvorlauf brauchen und so weniger schnell produziert sind. Wobei Schnelligkeit in Web-Echtzeit auch all den Informationsmüll produziert, in dem man sich erst umständlich orientieren muss. Zudem wiegen Drucksachen etwas, etwa wenn man ein dickeres Buch mitnimmt und unterwegs lesen möchte. Sie beanspruchen zudem zusätzlichen Platz, während das Smartphone bezüglich Platzbedarf und Gewicht konstant bleibt. Man könnte aber gleichzeitig fragen, ob Fast-Food wirklich die Art ist, wie man immer essen sollte oder warum Slow Food, also Genuss-Essen mit Bedacht, seinen festen Platz in der Welt hat.
Virtualität oder Print – Die Drucksache als Ruhepol der Vertiefung
Alle Informationen sofort oder Ausgewähltes und Redigiertes nachdem die Informationslage seriöser eingeschätzt werden kann? Warum sollte man stundenlang ein aufwendiges Essen zubereiten, wenn man einen Hamburger in 3 Minuten essen kann? Die Antwort liegt auf der Hand: Weil es besser schmeckt, gesünder ist, und der Bezug zum Essen ein anderer ist. Zumal gemeinsame Mahlzeiten auch ein soziales Ereignis sind. Aber beides ist nicht direkt vergleichbar. Vorläufiges aus dem Internet in Echtzeit und verlässlich Gedrucktes Schwarz auf Weiß sind etwas Verschiedenes, können sich aber auch ergänzen.
Onlinesein als Aufreger
Eine Welt, die sich online informationell in kürzeren Interwallen dreht, ist nicht mehr einfach zu erfassen. Sie regt auf, was zuweilen unterhaltsam sein kann. Sie stresst aber auch, weil permanente Aufmerksamkeit erst ermüdet und dann langfristig überlasten kann. Die gedruckte Zeitung, die ihren Inhalten vorgegebene Platzkontingente zuweist und redaktionell das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen hat, reduziert die Informations-Inflation – auch indem sie recherchiert, was wahr und unwahr ist. Fake-News haben ihre Konjunktur mit dem Aufkommen der Sozialen Medien beschleunigt, in denen es ungesicherte Information und meist keine Redaktion gibt. Eine seriöse gedruckte Zeitung bietet inhaltliche Substanz in einem redaktionellen Umfang, also viel mehr als Ein-Satz-Aussagen auf Twitter und weniger als der Vier-Stunden-Podcast. Man kann sie mehrmals zur Hand nehmen und nochmal nachlesen, man findet sie immer wieder.
Gedrucktes ist nicht nur ein anderer Aggregatzustand von Information, sondern zugleich ein anderes Konzept, das Informationen gewichtet. Gedruckte Information ist tendenziell entschlackt, verdichtet und nach Relevanz geordnet. Jede Produktbroschüre und jeder Infoflyer tut prinzipiell etwas ähnliches. Sie komprimieren Informationen, bringen sie in eine sinnvolle Reihenfolge und legen eine inhaltliche Dramaturgie fest.
Konzentration und Ablenkung
Man liest oder blättert ein Magazin wie zum Beispiel eine Mitarbeiterzeitschrift intensiver durch als seinen Online-Ableger. Keine blinkende oder das Lesefeld überlagernde Online-Werbung, keine Bewegtbilder, keine aufpoppenden Benachrichtigungen.
Das Fehlen von immer neuen Informationen über immer neue Klickmöglichkeiten erscheint hier als Vorteil, weil die Konzentration nicht zerfasert wird. Letztlich geht es auch um das Format: Ein Smartphone und selbst die meisten Tablets sind vergleichsweise klein im Verhältnis zum Format von aufgeschlagenem Magazin oder der Tageszeitung. Überall ist die Rede von der Handysucht, eine Print- oder Drucksachen-Sucht sucht man vergeblich.
Flüchtigkeit und Vorhandensein von Informationen
In diesem Spannungsfeld zwischen Flüchtigkeit und Manifestation erdet die Drucksache in einer zunehmend vorläufigen und virtualisierten Welt den Leser und Betrachter. Sie zeigt dem Menschen nebenbei seine Basis, betont seine Verortung in der realen Welt.
Was fast wie eine Selbstverständlichkeit klingt, ist zur Notwendigkeit geworden, denn immer mehr Menschen verlieren angesichts einer schwer greifbaren Virtualität graduell ihre klare Orientierung. Was man gestern gelesen hat, ist unter Umständen am nächsten Tag dem Zugriff entzogen – nicht so bei der Drucksache. In der kann man Wochen später unverändert nachlesen, was man vorher interessant gefunden hatte. Und wer studiert, wird sich überlegen seine E-Books am Smartphone-Bildschirm zu lesen, was per E-Paper am E-Reader einfacher ist aber schwieriger am Tablet. Die Lösung? Das gedruckte Buch kaufen. Die Orientierung gerade in umfangreichen Werken ist einfacher und nachhaltiger, während man sich in der Vielfalt der Quellen im Internet – so attraktiv sie auch sind – verlieren kann.
Kooperation von Web und Print
Das Vorhandensein des Gedruckten, das nicht einfach so verschwindet, sondern zumindest eine Zeit lang in den eigenen vier Wänden liegen bleibt, erfreut auch den Werber oder Marketing-Spezialisten.
Im Marketing ergänzen sich die jeweiligen Vorteile von Webangeboten und Drucksachen – und bereichern sich.
Fazit: Drucksachen stärken das Realitätsempfinden
In einer Gesellschaft, die sich virtualisiert, hat sich der Stellenwert physisch vorhandener und sinnlich begreifbarer Elemente verändert. Das gilt vor allem für Drucksachen, die Informationsträger sind. Denn was real vorhanden ist, entschleunigt den Nutzer und stärkt seine Aufmerksamkeitsspanne. Drucksachen, die visuell und haptisch erfahrbar sind, haben eine längere Verweildauer in Lebenszusammenhängen als flüchtige Online-Inhalte. Stress mit dem Akku oder der Internetverbindung? Eine Drucksache braucht nichts außer sich selbst, um immer da zu sein.